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DIE ZONE

Die Straße

Posted on 2. Februar 202126. Februar 2021 by Horst Senger

Oben, hoch oben, sitzt er. Im rücken die straße blickt er herunter, auf das grün mit bäumen ausgewalzt. Dazwischen feine teerstreifen, darauf fußgänger, einzelne oder in strömen, im 30-minuten-takt dann. Das fenster offen, hockt er auf der fensterbank, jeden tag, wenn es nicht regnet. Unten ein schauspiel, das für ihn gegeben wird. Für manche zeit bleibt die bühne leer, aber er ist nicht ungeduldig, er hat zeit. Er hat nicht das gefühl auf etwas zu warten, wie er da sitzt. Für ihn ist die zeit da oben, hochoben, immer voll. Er schaut auf das gelände vor seinen augen, diesen kleinen ausschnitt wirklichkeit, der da ist, wie er, der am fenster sitzt. Da sind momente der ruhe, nichts an bewegung, nur ruhe und sein blick, nicht mal autolärm auf der straße. Mit einem mal löst sich daraus etwas, fällt heraus, an das sich seine aufmerksamkeit heftet: eine taube, die sich im geäst eines baums niederlässt, die frau aus dem hausblock gegenüber, die ihre balkonkästen gießt, wieder in der wohnung verschwindet, während noch wasser herunter aufs geländer des balkons darunter tropft oder die nachbarin vom nebenhaus, die bald danach aus der haustür tritt, in den eingang zum waschraum huscht. Dann wieder ruhe, bis der junge, der in der wohnung direkt unter ihm wohnt, aus dem haus geht. Er geht nur langsam, ist behindert, zieht ein Bein nach, wahrscheinlich folge einer kinderlähmung. In der siedlung sprechen sie nur vom krüppel, wenn es um ihn geht. Natürlich nur bei vorgehaltener hand. Er, der da da oben sitzt, ihm jetzt nach schaut, hat mit ihm nichts zu tun. Sie sprechen nicht miteinander. Im ganzen haus wird nicht viel miteinander gesprochen, meist nur übereinander. Viel geschwätz und groll stehen im hausflur. Der junge verschwindet hinter dem hausblock, kehrt nach einer weile wieder zurück, mit zwei einkaufstüten, die schwer in seinen händen wiegen. Ein zäher Bursche. An manchen abenden dringt lärm von unten hoch, schmerzensschreie darunter. Dieser junge hat es nicht leicht. Er da oben hat mitleid mit ihm. Auch er weiß, wie es sich anfühlt, wenn man verprügelt wird. Das ändert nichts daran, dass sie nicht miteinander reden. Er ist ihm fern & er spürt nicht den drang, etwas daran zu ändern. So wenig er überhaupt etwas ändern will. Was er will, ist, am fenster zu sitzen & runterzublicken, aufzulesen, was ihm in den blick gerät, wie zum beispiel der mann mit beigem trenchcoat, der zu ungewöhlicher zeit, da sonst keine aktentaschenträger unterwegs sind, den pfad entlang kommt, auf das nebenhaus zuhält & dort angekommen klingelt, wartet, eine zeitlang wartet, in der nichts passiert, dann von der tür zurücktritt, den kopf nach oben wendet, die reihen der fenster absucht, ob sich nicht jemand am fenster zeigt. Er, der trenchcoat-mann, der mit aktentasche unterwegs ist, um versicherungen oder zeitungsabos oder was auch immer an die hausfrau zu bringen, der nur manchmal aus versehen hereingelassen wird & schnell wieder draußen ist, hat hier einen schweren stand. Keine gute gegend für klinkenputzer, nicht im frühling wie jetzt & auch nicht im sommer, denn hier sitzt das geld nicht locker & die furcht vor femdem umso tiefer.

Mit stilleren augenblicken ist es so ab drei uhr, dem ende der mittagsruhe, vorbei. Der wirbel am und um den spielplatz bricht los. Der spielplatz ist ein kleines geviert mit Sandkasten & spärlichem spielgerät bestückt: eine wippe, ein winziges karussell & zwei schaukeln. Die ärmlichkeit des angebots stört die kinder nicht, ebenso wenig wie den betrachter dort oben, hochoben. Sie sind nichts anderes gewohnt & also stürmen sie jeden tag auf den platz wie das erste mal, erobern die spielgeräte, malen hickelfelder in den sand, geraten sich in die haare, kratzen und beißen sich, bewerfen sich mit sand & schäufelchen & manchmal fließen tränen, kommen große brüder vorbei & sorgen für ordnung, wenn etwas aus dem ruder gelaufen ist, erinnern an hierarchien, die nie und nimmer in frage zu stellen sind. Das spielgeschehen auf dem platz, so scheint es ihm da oben, besitzt unabhängig von einzelnen akteuren einen sich wiederholenden wellenförmigen verlauf: eine phase, in der sich fiebrigkeit & nervosität aufbauen, die sich schließlich in einem dramatischen höhepunkt entladen, und eine solche des abschwellenden tumults, an deren ende sich kurzzeitig eine harmonie einstellt, in der alle beteiligten in ihrem spiel versinken, bis dann eine winzige verschiebung im arrangement, die nächste phase einläutet. Die da unten spielen sind die kinder der siedlung, andere sieht er selten. Diese wenigen anderen sind kinder von besuchern, die zumeist am wochenende kommen. Fremde hätten wohl auch probleme, sich auf dem spielplatz zu behaupten, denn das platzhirschgefühl ist auch bei den kleinen schon sehr ausgeprägt. Mütter sieht der beobachter dort oben nicht, die sind mit anderem beschäftigt, wie die nachbarin vom nebenhaus, die ein wäscheseil von einer teppichstange zur anderen zieht, um ihre wäsche aufzuhängen. Es gibt eine regel, wer an welchem tag die wäsche trocknen darf. Wer einen regentag erwischt, ist schlecht dran. Er, der da am fenster sitzt & der nachbarsfrau zusieht, kennt die regel nicht. Sie kümmert ihn auch nicht. Er freut sich jetzt darauf, dass die roten bahnbusse ein ums andere mal mehr personen ausspucken. Busse, die damals noch keine aufschriften getragen haben. Einfach rot lackiert sind sie gewesen & mit schaffnern an bord, die fahrkarten kontrollieren oder die zusteigenden mit fahrscheinen versorgen. Er mag es, sich im strom, der sich über den fußgängerweg ergießt, an eine person zu heften, ihr zu folgen, bis er sie aus dem auge verliert, weil sie in einem hauseingang verschwindet oder hinter dem nächsten hausblock. Andere entschlüpfen ihm über die straße hinweg, von einem der gegenüberliegenden hochhäuser aufgesogen. Sobald er eine person verloren hat, hüpft er zur anderen, die ihm auffällt, ohne zu wissen, warum seine wahl auf sie gefallen ist. Wenn der strom der ausgestiegenen verebbt ist, wendet er sich den spielenden zu oder dem, was auf den balkonen passiert. Kaum einmal widmet er seine aufmerksamkeit einem vorbeifahrende auto. Autos sind einfach zu schnell, als dass er sie in augenschein nehmen könnte. Anders die male, wenn ein auto auf einem parkplatz hält. Er wartet, bis der fahrer aussteigt, um seine schritte zu begleiten. Die meisten kennt er, weiß, in welches haus sie verschwinden werden. Manche lassen sich zeit mit dem aussteigen. Was sie in dieser zeit machen, weiß er nicht, denn er kann nicht ins wageninnere blicken. Ruhen sie sich aus von der fahrt, sammeln sie sich, bis sie ins haus gehen, wie um sich zu wappnen, für das, was sie dort erwartet? Die meisten von ihnen haben keine eile zu ihrem haus zu kommen, anders als diejenigen, die mit dem bus ankommen.

Die menschen, die der bus ausgespuckt hat, bewegen sich so, als hätten sie nur eines vor: so schnell nach hause zu kommen wie möglich. Für sie ist der weg nur eine lästige letzte etappe zu ihrem ziel. Darin gleichen sich männer wie frauen. Ganz wenige nur schlendern. Sie werden umkurvt wie lästige hindernisse & des öfteren angerempelt von den eiligen. Für ihn da oben sind sie, die langsamen, faszinierend, nicht allein wegen des tempos, weil er sie dann länger in den blick nehmen kann. Anziehend für ihn macht sie ihre unempfindlichkeit gegenüber dem, was sie umgibt. Sie sind für sich, denkt er da oben. Ihnen kann nichts etwas anhaben. Wie ihm, der am fenster sitzt. Bei der einen oder der anderen person spürt er den impuls, seinen posten aufzugeben & hinunter zu eilen, ihr zu folgen, macht es aber nicht. Denn er weiß, er würde niemals den mut aufbringen, sie anzusprechen. Aber selbst im unwahrscheinlichsten fall, wenn er sich überwinden könnte, wüsste er nicht, ihr etwas zu sagen oder ein frage zu stellen. Zwischen halb fünf und halb sechs die hochzeit an verkehr, eine busladung nach der anderen wird auf den gehsteig gekippt. Heimkehrer aus der großstadt, die meisten angestellte, alle mit aktentaschen bewehrt, die einen mit feinem zwirn, die anderen mit abgewetzten klamotten. Nur wenige handtaschenträgerinnen macht er in der schar der heimkömmlinge aus. Das ist jeden tag so, den er am fenster verbringt. Graue kittel oder blaumänder sind selten, sie stechen aus dem pulk der uniformen angestellten heraus. Die frauen, die ohne handtasche und ohne einkaufstaschen dem bus entsteigen, sind arbeiterinnen, das weiß auch er da oben, hochoben. Manche kennt er, es sind mütter von schulkameraden darunter. In regelmäßigen abständen gießt der bus fahrgäste aus, spült sie auf die wege, wo sie irgendwann unsichtbar für den da oben, hochoben, versickern. & immer wieder taucht er in die wogen ein, bis der strom am abend abebbt, sich nur noch einzelne fußgänger zeigen. Die kinder auf dem spielplatz sind da längst verschwunden. Nur an wenigen tagen bleibt er so lange am fenster, dass er die menschen, die spät heimkehren, beobachtet, wie im sie im lichkegel der laternen auftauchen & im dunkel verschwinden. Der zauber wirkt nur am tage, so scheint es ihm.

Jahr für jahr pflegt er seine gewohneit, an schönen tagen am fenster zu sitzen. & er hat sie verfeinert. Er hört jetzt musik dabei. So laut, dass er sie hört, sie aber nicht allzu sehr nach außen dringt. Ihm liegt nicht daran, dass man auf ihn da oben aufmerksam wird. Er hat sich eine kleine plattensammlung angelegt, darunter sind einige psychodelische musikalben, die er dann besonders gern hört, auch der farbe wegen, die scheiben sind bunt, buntes vinyl, das auf dem plattenteller kreist. Aber den schallplattenspieler hat er nicht im auge, seine konzentration gilt dem draußen, so sehr, dass er oftmals das kratzen des tonarms überhört, wenn das ende der platte erreicht ist. Das ärgert ihn dann, denn es ist nicht gut für die nadel des tonarm. Mit den jahren hat sich der fokus seiner aufmerksamkeit peu à peu verschoben. Sind es in früheren tagen auffälligkeiten jedweder art gewesen, die den ausschlag gegeben haben, eine person aus der menge herauszupicken, legt er jetzt einen filter über den beginn des wegs, der hinter der bushaltestelle beginnt. Das unwillkürliche sich-an-die-fersen-heften ist gewichen, an seine stelle eine art sieben getreten, eine vorauswahl der personen, die für seine nachverfolgung infrage kommen. Ihm selbst da oben, hochoben, bleibt diese veränderung verborgen. Auch und vor allem, dass es immer öfter junge frauen sind, an denen sich sein blick verfängt. Mit der zeit schälen sich favoritinnen heraus, die er auf ihrem nachhauseweg ein kurzes stück lang begleitet. Er hat sich mittlerweile die zeiten eingeprägt, zu denen sie gewöhnlich an ihm vorbeikommen. In der zeitspanne kurz vor der erwarteten ankunft des busses ist er angespannt, will er doch verhindern, dass er sie verpasst. An den tagen, an denen er eine von ihnen nicht zu gesicht bekommt, ist er enttäuscht, macht sich vorwürfe, dass er vielleicht nicht aufmerksam genug gewesen ist und sie übersehen hat, oder fragt sich bang, ob sie für immer ausbleiben könnte. In der zeit, in der nicht mit ihnen zu rechnen ist, kann sein blick frei floaten, über die balkone gebenüber, hinüber zu den hochhäusern, über den sportplatz hinweg, der gegenüber den hausblocks liegt, auf dem er & ein paar andere jungs aus der nachbarschaft immer mal wieder heimlich gekickt haben, bis der platzwart aufmerksam geworden ist & sie vertrieben hat. In diesen zwischenzeiten kann er einer der nachbarinnen zusehen, wie sie an der dafür vorgesehenen stange ihren teppich ausklopft, mit ihren schlägen staubwolken aus dem teppich treibt oder die anzugaktenkofferträger unter die lupe nehmen, die für ihn da oben, hochoben, nicht weniger grau erscheinen als die wenigen arbeitskittelträger, die seinen blick queren. Anders als früher lässt er den blick nicht mehr so oft freischweben über das daunten. Mehr und mehr driftet er ab, richtet seinen blick nach innen, stellt er sich vor, wie er gleich die von ihm erwarteten in empfang nimmt, sie unsichtbar begleitet, bis er sie loslassen muss. Ohne sich darüber im klaren zu sein, hat ihn da oben dasjenige gefühl des wartens erwischt, das eine freudige sehnsucht in sich birgt. Die zahl seiner auserwählten reduziert sich mehr und mehr, bis es nur noch wenige sind, unter ihnen, eine, die ihn besonders unruhig macht, sobald er sie erkennt. Oft hat er mit dem gedanken gespielt, einfach herunter zur bushaltestelle zu gehen & dieser einen leibhaftig auf ihrem weg zu folgen. Was ihn davon abgehalten hat, ist der gedanke, den kleinen ausschnitt nicht mit dem unübersehbaren ganzen und dem, was es für ihn bereithalten könnte, tauschen zu wollen. Also ist es erst einmal bei der vorstellung geblieben. Bis er dann den platz oben, hochoben, am fenster geräumt hat & hinunter gegangen ist & doch mit keiner seiner auserwählten geredet hat.

Wenn ich meine eltern besucht habe, die immer noch in der siedlung gelebt haben, in der ich aufgewachsen bin, habe ich ihn gesehen da oben, hochoben, im fenster. Den, der ich einmal gewesen bin. Ich suche mich dann daran zu erinnern, was seine gedanken gewesen sind, wenn er dort oben gesessen hat. So sehr ich mich auch anstrenge, hinter das zu gelangen, was sich damals in seinem kopf abgespielt hat, scheitere ich. Ich erinnere mich sehr wohl an szenen von damals, wie fotografien sind sie abgespeicher in meinem gedächtnis. Ich sehe die hausblöcke, die rasenanlage dazwischen, die zu betreten strengstens verboten gewesen ist, die teppichstangen dort, den hausflur mit dem durch umzüge oder mutwilligkeit ruininierten putz, habe die gegenüberliegenden hochhäuser vor augen, umfasst von der ringstraße, den saum von parkplätzen entlang der straße, nur unterbrochen durch die zufahrten zu den hochhäusern, den mickrigen spielplatz, der von den älteren kindern auch als bolzplatz genutzt worden ist, kann mich in die abendstimmung versetzen, wenn die roten bahnbusse nur noch vereinzelt verkehrt sind. Wovon ich mir kein bild mehr machen kann, ist das mädchen, für das er geschwärmt hat & das einen block hinter dem seinen gewohnt hat. Ich weiß mich jedoch genau an den tag zu erinnern, da der etwa drei jahre ältere junge vom hauseingang nebenan, mit schwarzer armbinde herumgelaufen ist, weil Jimi Hendrix gestorben war, den ich damals noch nicht auf meinem musikalischen schirm gehabt habe. Starke Erinnerungen auch an die nacht, in der ich aus dem schlaf aufgeschreckt bin, weil durch zwei blocks eine welle der erregung schlug, weil es tumult gab, Blaulichter aufblitzten. Irgendeiner hatte in der nacht eine frau ins gebüsch gezerrt, um sie zu vergewaltigen. Die hat geschrien & er von ihr abgelassen. Und auch an jenen schrecklichen tag, den es hätte nie geben dürfen, als polizisten, bei uns geklingelt haben & meine mutter vom tod ihres bruders, meines lieblingsonkels, benachrichtigt haben. Tage im emotionalen ausnahmezustand folgten. Ich kann nicht angeben, wie lange sie angedauert haben. Aber selbst diese zeit ist in der hauptsache bebildert. Ich sehe mich aus meinem zimmer kommen, erkenne den vorderen polizisten, der halb in den flur eingetreten ist, habe das laute schluchzen meine mutter im ohr und die unbeholfenheit des polizisten vor augen. Was mir nicht gelingt, ist nachträglich in das erleben des 15-jährigen, der ich damals gewesen bin, zu schlüpfen. Ich vermag weder die empfindungen nachzuerleben noch gedanken zu erfassen, die ihm damals durch den kopf gegangen sein mögen. Da wiederaufersteht nichts. Ein weg könnte sein, dass ich mir etwas hier und heute erdichte, dass ich ihm anders ausgedrückt etwas anhänge, was nicht gewesen ist. Autoren können das machen & das machen sicherlich auch viele, mir untersage ich es. Ich halte es für verrat an dem, der ich einmal gewesen bin. Der da oben, hochoben, gibt sein geheimnis nicht preis. Vielleicht ist es genau das, was ihn ausmacht, was sich in ihm ausdrückt, dass er schaut, um sich fern zu halten von dem da draußen und seinen dämonen drinnen.

Der text ist inspiriert durch ein bild des schweizer malers Balthasar Kłossowski de Rola: https://www.kunstforumwien.at/en/exhibition/kunstforum/226/balthus

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